Abdelkader Damani 2025

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Abdelkader Damani, published in Brigitte Mahlknecht, Invisible worlds - in situ, 2025 Schlebrügge.editor Vienna

Listen to the reed flute and the tale it tells
How it sings of separation:
‘Ever since I was cut off from my bed of reeds,
Men and women have joined in my lament
I keep seeking other hearts, torn by separation
To share my tale of painful longing.’
Dschalal ad-Din Rumi1

Where does art begin? In every corner of the world, the mystery of its origins paves the way with myths that must be followed in order to arrive here, in this very moment. It is through this journey that works are born, and with them, our ­connection to the world and to those who inhabit and shape it. The question of origin is the only one worthy of being asked when approaching human creations, whether contemporary or ancient. Brigitte Mahlknecht’s art arises from this relentless pursuit of beginnings, an obsession with recalling the invisible worlds from which we might have emerged. With every line she draws, the artist yields to the tremors of memory. There is not a single straight line in her work. On the contrary, her lines oscillate, as if they were drunken with a kind of melancholy that overcame her at being torn from their origins, much like the reed flute in Rumi’s verse.

The artist’s Invisible Worlds are here, with us. Or rather, she summons them for us. These are worlds we instantly recognize, a universe that feels familiar. Yet deep down, we know that they do not exist in tangible reality. The contradiction does not trouble us, for we are able to hold on to a strange certainty: we have already been there, in the artist’s invisible worlds. Perhaps once, in a time long past, buried in the earliest hours of our existence. To look at Brigitte Mahlknecht’s work is to confront the truth that what we see – especially the landscape, for her entire oeuvre revolves around landscapes – is deeply familiar. Think of the sense of déjà-vu every time our gaze rests on a mountain, a forest, or a river, even if it is our first time seeing them. It is easy to come to the conclusion that observing the elements of nature reminds us where we come from. We were animals of the earth, and hope to become so again. But in Mahlknecht’s landscapes, there are other terrains that emerge as the sites of our ancestors. These landscapes were ideas before they were maps or images. They exist in an elusive elsewhere, in a space we cannot locate or describe, but whose existence we feel with an intuitive certainty. This place – this ‘somewhere’ – becomes the echo of a primordial universe, an immaterial collective memory.

The artist’s Invisible Worlds are landscapes before land­scapes. It is as if the artist were traveling back to the beginnings, to the moment when the fires of the universe were still formless. In her works, she narrates tales of foreign worlds. These invisible worlds speak of a journey into the unknown, without borders – or rather, with borders that invite transgression. Borders crafted for the foreigner. The foreigner, like the work of art – which remains alien to its present so as to defy the passage of time – , has the ­dis­­tance necessary for life to persist. Without the foreigner, without otherness, ‘being in the world’ becomes an attempt at mimesis without any foundation. The world would become a collage of sameness, of the obvious. The disappearance of the foreigner, like the disappearance of the distant, would sever us from our horizons. It would be like sitting at the edge of a sea without seeing its end, without experiencing the illusion of an infinite flat earth which, despite its falsehood from a scientific point of view, is an invi­ta­tion to dream and to imaginine. It is at the shore’s edge that we are allowed to remember and, at the same time, to project ourselves into the future. It is between these two spaces of hope, of dream or even fantasy, that the most intense joys come to pass – the joys that prepare us for the encounter with a work of art.
To embrace the unknown, to savor unknowing, gives each of us the hope of becoming explorers of ourselves and discoverers of the world. How many times, when reading a novel, watching a film, or admiring a painting, have we said to ourselves: ‘This is exactly what I’ve been thinking for years without ever having the words, the colors, the forms… to express it.’

This work is made of an archipelago of encounters, of strangers, and a perpetual practice of freedom. It is not a place but an intertwining of places. An arabesque unearthed from the deepest layers of human memory, linking the imprints of hands caressing cave walls to the vast, orderly walls of the Mosque of Cordoba, and passing via the narratives of the Scrovegni Chapel.
And so Mahlknecht’s works wander on their way – to find us, if we have the courage to encounter them.

1 Brad Gooch, Rumi’s Secret: The Life of the Sufi Poet of Love, New York: HarperCollins 2017

 

Abdelkader Damani, in Brigitte Mahlknecht, Invisible worlds - in situ, 2025 Schlebrügge.editor Wien

Hör zu, wie das Schilfrohr sich beklagt,
wie es von seinem Trennungsschmerz erzählt:
„Seit man mich abgeschnitten hat vom Röhricht,
klagt Mann und Frau in meinen Flötentönen.
Ein Herz, zertrümmert von der Trennung, wünsch ich,
damit ich ihm vom Sehnsuchtsschmerz berichte.“
Dschalal ad-Din Rumi1

Wo liegen die Anfänge der Kunst? Diesem Rätsel entspringen überall auf der Welt jene sagenumwobenen Wege, die uns bis hierher, bis zu diesem Moment führen. Wird dieser Weg beschritten, entsteht Kunst, und aus der Kunst wiederum ergibt sich unsere Beziehung zur Welt und zu den Menschen, die ihr innewohnen und die sie formen. Nur dies gilt es zu fragen, wenn wir menschlichen Schöpfungen entgegentreten, egal ob sie zeitgenössisch oder vor langer Zeit entstanden sind. Die Kunst von Brigitte Mahlknecht entsteht aus der beharrlichen Frage nach den Anfängen, unermüdlich versucht sie die Erinnerung an die unsichtbaren Welten freizulegen, denen wir höchstwahrscheinlich entstammen. Jeder Strich, den sie macht, folgt den brodelnden Ausbrüchen der Erinnerung: In ihrem Werk ist keine einzige gerade Linie zu finden, vielmehr oszillieren Mahlknechts Linien, als seien sie trunken von einer Art Melancholie, die sie überkam, als sie ihrem Ursprung entrissen ­wurden – wie die Ney, die Rohrflöte Rumis, als man sie aus dem Röhricht schnitt.

Die Invisible Worlds der Künstlerin sind da, sie sind, wenn die Künstlerin sie für uns aufruft, hier bei uns. Es sind Welten, die wir sofort wiedererkennen, ein ganzes Universum, das uns längst vertraut ist. Und obwohl wir tief in unserem Inneren wissen, dass diese Welten in der greifbaren Realität nicht existieren, stört uns das nicht, weil wir die seltsame Gewissheit verspüren, schon einmal dort gewesen zu sein, dort, in jenen unsichtbaren Welten der Künstlerin: irgendwann einmal, vielleicht vor ganz langer Zeit, vielleicht in einer Zeit, die unter den ersten Stunden unseres Daseins tief begraben liegt.
Das Werk von Brigitte Mahlknecht zu betrachten, bedeutet, sich darüber im Klaren zu sein, dass das, was wir betrachten – und ganz besonders die Landschaft, denn prinzipiell geht es in ihrem Werk um Landschaft –, uns immer etwas Wohlbekanntes ist: Wir haben ­Déjà-vu-Erlebnisse, wenn wir einen Berg, einen Wald oder einen Fluss betrachten, auch wenn wir sie zum ersten Mal sehen. Das mag daran liegen, dass uns die Betrachtung der Natur daran erinnert, woher wir eigentlich kommen, welches unsere Ursprünge sind, denn einmal waren wir Tiere dieser Erde und hoffen, es auch wieder sein zu können. Aber die von Mahlknecht geschaffenen Landschaften stellen andere Landschaften dar, sie offenbaren sich als die unserer Vorfahren, die, bevor sie zur Landkarte, zum Bild werden, nur Idee sind. Sie existieren in einem schwer fassbaren Anderswo, in einem Raum, den wir weder verorten noch bezeichnen können, dessen Dasein wir jedoch mit instinktiver Gewissheit spüren. Dieser Ort, dieses „Irgendwo“ wird zum Echo eines lange vor uns dagewesenen Universums, es wird zum immateriellen Gedächtnis, das wir mit allen Menschen gemeinsam haben.

Die Invisible Worlds der Künstlerin sind Landschaften, die vor die uns bekannten Landschaften geschoben wurden; es sind Landschaften vor den Landschaften. Als würde die Künstlerin zu unseren Anfängen reisen, in eine Zeit, in der die Glut des Universums noch formlos war. Ihre Werke sind Erzählungen von unbekannten und fremdartigen Welten. In den unsichtbaren Welten geht es um die Reise ins Unbekannte und Grenzenlose oder, um es genauer zu sagen, um die Grenzen, die zu ihrer eigenen Überschreitung einladen. Grenzen, die für das Fremde sogar erst gezogen wurden.
Das Fremde sowie das Kunstwerk, das seiner Gegenwart, um dem Lauf der Zeit zu trotzen, fremd bleibt, ist die notwendige ­Dis­­­­tanz, damit das Leben fortbestehen kann. Ohne das Fremde und ohne das Anders­artigsein würde das „In-der-Welt-Sein“ zum mimetischen Versuch ohne jede Grundlage. Die Welt wäre eine Collage, zusammen­gesetzt aus Immergleichem und Selbstverständlichem. Das Verschwinden des Fremdartigen und das der unbekannten Ferne käme dem ­Verschwinden des Horizonts gleich. Als säßen wir am Rand eines Meeres, dessen Ende wir nicht sehen können und müssten auf die ­Illusion einer flachen und endlosen Erde verzichten, die, trotz ihrer ­wissenschaftlichen Falschheit, unsere Träume und unsere Vorstellungskraft belebt. Dort, am Rand des Ufers, dürfen wir uns erinnern und uns ­genauso die Zukunft ausmalen, denn hier, zwischen diesen beiden ­Orten, dem des Hoffens und dem des Träumens, ja, dem der Fantasterei, finden wir den Ort der größten Freude: die Vorfreude auf die Begegnung mit einem Kunstwerk.
Sobald wir uns auf das Unbekannte einlassen und es genießen, erst ­einmal gar nichts zu wissen, eröffnet sich für jeden die Aussicht, sich selbst erforschen zu können, Welt neu entdecken zu können. Wie oft haben wir uns beim Lesen eines Romans, beim Sehen eines Films oder während wir ein Gemälde bewunderten gedacht: Ja, das ist genau das, was ich schon seit Jahren denke, ohne vorher die richtigen Worte, Farben, Formen … gefunden zu haben, um es auszudrücken.

Dieses Werk ist ein Archipel von Begegnungen, von Fremdem und Andersartigem, eine permanente Praxis der Freiheit. Es geht dabei nicht um einen Ort, sondern um eine Verflechtung von Orten. Eine Arabeske, aus den tiefsten Schichten menschlichen Gedächtnisses herausgegraben, die die Abdrücke von Händen, die über ­Höhlenwände strichen, mit den langen und geordneten Mauern der Moschee von Córdoba verbindet, während sie die Erzählungen des Freskenzyklus der Scrovengi-Kapelle streift. Und genau diese verschlungenen Wege sind es, denen die Werke von Mahlknecht folgen – um uns wiederzufinden, wenn wir den Mut haben, uns von ihnen führen zu lassen.

1 Dschalal ad-Din Rumi, Masnawi, aus dem Persischen von Otto Höschle, Xanten: Chalice Verlag 2022.